Wattelsgasse
Die Wattelsgässler und ihre ganz besondere Nachbarschaft
Erinnerungen an das fast alltägliche Leben in unserer Straße
Eine Wattelsgässlerin erzählt:
Schon mein Leben lang wohne ich in der Wattelsgasse und ich könnte mir keinen besseren Platz vorstellen. Ich bin hier geboren und mit meinen zwei Geschwistern groß geworden. Es ist das Elternhaus meines Vaters - auch seine Eltern und sein Großvater haben bereits schon in dem Haus gewohnt. Der Großvater war als Schuhmacher im Dorf bekannt. Sein Spitzname war: „De Schuh“. Seine Frau, also meine Urgroßmutter, war die Hebamme Maria Christina (K)Catharina. Es gibt eine Geschichte von ihr, die man nicht glauben würde, wäre sie nicht von Generation zu Generation weitergegeben worden. Diese wird an anderer Stelle erzählt.
Der „Adlerwirt“ war unser Nachbar. Ich habe ein paar Sätze in Erinnerung, die er zu mir (als ich ein kleines Mädchen war) sagte: „Na, Fräulein, was bekommst du?“ Das Ergebnis waren die gewünschten Zigarren und mein rotes Köpfchen. Es waren die „Weißen Raben“, die ich für meinen Vater bei ihm geholt habe (kleinere Zigarren); meistens habe ich 30 Pfennig dafür bezahlt. Ich wollte von Vater immer das Geld „abgezählt“ mitbekommen, weil mir das Betreten der Wirtschaft nicht so angenehm war und ich schnell wieder nach Hause wollte. Ich würde sagen, dass der Schorsch ein gutes Gespür für meine kindliche Unsicherheit hatte. Er hat gemerkt, dass ich beim Betreten der Gaststätte etwas zögerlich war – wenn ich an dem runden Stammtisch vorbei musste und auf den Tresen zulief. Am Stammtisch waren die Männer in guter Stimmung und ich hatte Herzklopfen. Oft haben die Männer Skat gespielt und erwartungsvoll die Karten auf den Stammtisch gelegt. Schorsch wollte nicht, dass jemand ein längeres Gespräch mit mir anfing. Er hat mir zugelächelt, bis ich am Tresen war und der Kauf beendet war.
Ich habe (immer noch) das Lachen und Scherzen von Schorschs Töchtern Else und Cäcilia, zusammen mit ihrer Cousine Emmi, in den Ohren, wenn im Nebenzimmer des „Adlers“ Feste (z. B. Hochzeiten) gefeiert wurden und die Drei tatkräftig in der Küche und beim Bedienen geholfen haben. Begleitet mit ihren schönen weißen Trägerschürzen sind sie die Eingangstreppe heruntergerannt in den angrenzenden Garten, um Salat, Petersilie oder sonstige Kräuter zu holen. Es ging dabei um folgende Wette: Wer ist die Schnellste? Ja, lange ist es her.
„Die besten Beefsteak („Biffdeck“) mit herrlich duftender Auflage von geschmorten Zwiebeln hat die „Adlerwirt-Liss“ gemacht. Manch einer hat sich bei der Abgabe seines Lottoscheines diese Köstlichkeit schnell noch neben einem Glas Bier oder einem Glas Wein gegönnt. Viele Jahre gab es die Lotto-Annahmestelle beim Adlerwirt. Später hat dann der Friseursalon Wambsganß die Lotto-Annahme übernommen.
In den sechziger Jahren gab es – in Bezug auf Oberdorf und die angrenzende Wattelsgasse – nur beim Adlerwirt ein Fernsehgerät.
Zur Faschingszeit gingen die Familien mit ihren Kindern in die Wirtschaft, um sich eine Karnevalübertragung am Fernseher anzusehen. Die Augen der Kinder leuchteten, wenn es ein Päckchen Salzstängle gab und dazu ein Glas mit gelbem „Bluna“. Wenn die Kinder dann etwas müde wirkten und nicht mehr so sitzen wollten, wurden sie noch mit einem Eis am Stiel von der Marke „Schöller“ überrascht. Es war eine wunderschöne Zeit, ganz ohne „Handy“ oder „PC“.
Das zweite Fernsehgerät hatte dann die Familie Schaaf in der Wattelsgasse.
Da war folgende Zeremonie: Die Männer saßen auf der Chaiselongue, um die Nachrichten zu sehen. Mucksmäuschenstill durften die Nachbarskinder auf dem Boden – vor dem Gerät sitzen. Es hat ewig gedauert, bis die (für uns) „langweiligen“ Nachrichten vorbei waren, und wir Kinder saßen wie auf heißen Kohlen – in Erwartung, was wir danach endlich sehen durften, nämlich: „Kommissar Freytag“!
Die Krimiserie „Kommissar Freytag“ kam in den Jahren 1963 bis 1965. Es war eine für das Vorabendprogramm des Hessischen Rundfunks produzierte Fernsehserie. Die Länge einer Folge betrug 25 Minuten, und danach war für uns Kinder Schluss! Da hätten wir nie einen trotzigen Einwand gebracht. Wir waren damit glücklich und zufrieden. So nach und nach gab es dann in fast jeder Familie die Fernsehgeräte.
Diese Zeremonie gab es nicht jeden Abend, denn in den Sommermonaten traf man sich immer zum abendlichen Zusammensein von Männern und Frauen auf den Treppenstufen vor den Haustüren. Die Frauen in ihren bunten Kittelschürzen haben über ihre Kinder und die Feldarbeit erzählt; die Männer ebenso und noch von dem örtlichen Vereinsleben. Die Kinder haben mit dem Ball gespielt und durften dann in der angrenzenden Adler-Wirtschaft einen Stein Bier für die Väter holen. Der Stein Bier war schwer, und wir haben aufgepasst, dass wir nichts verschüttet haben. Ein kleiner Junge sagte zu seinem gleichaltrigen Freund: „Trinke doch einen Schluck davon, dann ist das große Glas nicht mehr sooo schwer.“
Damals gab es noch die große Schnakenplage und immer wieder konnte man den Satz hören: „Dess misst doch jetzd emool offhöre mit denne Schnoge.“ Schnell wurde wieder auf Arme oder Beine geklatscht mit dem Satz: „Die missden doch emool abnämme“ (damit waren die Schnaken gemeint) und schon ging die Unterhaltung weiter.
Fast gab es einmal einen Entführungsfall – heute würde man über das Zustandekommen etwas lächeln – aber damals waren die beiden Nachbarsfrauen sehr gewieft: Zwei Nachbarsfrauen saßen zu später Stunde allein auf den Treppenstufen ihres Hauses in der Wattelsgasse und erzählten.
Erst Wochen später kamen sie auf ihr damals mysteriöses Erlebnis zu sprechen: An jenem Abend kam ein Auto angefahren mit fremdem Nummernschild. Es hielt bei den beiden Frauen an. Der Fahrer kurbelte die Scheibe herunter, grüßte freundlich und lud beide zu einer kleinen Autofahrt ein. Hinten im Auto saß eine „altgekleidete Frau – wie eine Oma“. Zuerst waren die beiden Wattelsgässlerinnen sprachlos, schauten sich gegenseitig an, und plötzlich bemerkten beide, dass es sich bei der „Oma“ um einen verkleideten Mann handelte. Der Fahrer sprach weiter auf die Frauen ein und die „Mann-Oma“ lächelte nur.
Die beiden Nachbarsfrauen sagten zum Fahrer, er möge bitte jetzt endlich weiterfahren, und schließlich tat er dies.
Beide Frauen hatten dennoch einen kleinen Schock; noch viele Jahre sprachen sie immer wieder über dieses Erlebnis. Was wäre mit uns passiert, wenn wir in das Auto eingestiegen wären? An diesem Abend gönnten sie sich noch eine Tasse Kaffee, weil ihnen klar war, dass sie in dieser Nacht doch keinen Schlaf finden würden.
So war das Leben in der Wattelsgasse. Tagsüber ging jeder seiner gewohnten Arbeit nach und am Abend freute man sich über die Geselligkeit, und dann war man noch froh und stolz, dass die beiden Frauen so souverän reagiert haben.
Bei den Alteingessenen in der Wattelsgasse wird das herzliche Miteinander bis heute gepflegt. Bei „Briefbodds Trud“, der Näherin, und ihrer Schwester Anneliese ging die Kundschaft ein und aus. Da gab es noch die gute „Tante Berta“. Über die Mittagszeit ging Trud gerne zu den Nachbarn, um zu erzählen. Vieles kam dabei zur Sprache, auch das, was Trud beim Bedienen in der Rheinwirtschaft gehört hat. Da ging die Tür auf und eilig kam „Tante Berta“ herein: „Trud, eine Frau ist da, du hattest doch versprochen, dass sie heute ihr Kleid abholen kann. Hopp jetzd geh' mit". Selbstverständlich ist Trud dann mit Tante Berta nach Hause zurück. Wir waren um ein paar Erzählungen reicher und Trud hatte etwas Entspannung von der Nähmaschine. Als Kinder haben wir es geliebt, uns bei Trud und Berta die bunten Hefte mit den Schnittmustern anzusehen.
Es gab auch die Gärtnerei von Raimund Bürckel. Wir mochten es, um die eingefassten Beete herum Fangen zu spielen. In einem kleinen Raum, an das Wohnhaus angrenzend, trafen sich ein paar Frauen und halfen, die Pflanzen zu pikieren (im Gartenbau bedeutet Pikieren das Verpflanzen von zu dicht stehenden Sämlingen auf größere Abstände (vereinzeln)). Im hinteren Teil des Hofes, rechts neben der Scheune, gab es einen kleinen Verkaufsladen. Links an der Wand waren sorgfältig die Päckchen mit verschiedenen Samen gestapelt.
Raimund war beim Verein, dem „Heimatbund“, auch als Nikolaus unterwegs. Wenn er bei den Besuchen ein Kind antraf, dessen Eltern nicht im „Heimatbund“ waren, bekam dieses Kind trotzdem ein kleines Geschenk von ihm (Orange und ein Stück Schokolade o.Ä.).
Schon immer holten wir „ins' Deubig Bäckers“ unser Brot. Die freundlichen Verkäuferinnen (auch verwandt) gaben meiner Großmutter immer noch ein Extra-Brötchen dazu. Das war eine große Freude für sie. Einmal hatte sich meine Großmutter zu einem festlichen Anlass zwei große, ungefüllte Kranzkuchen backen lassen. Sie wurden dann (freitags) in einem Kellerraum, der zu einem angrenzenden kleinen Gebäude der Bäckerei gehörte, gelagert. Das Gebäude hatte eine Eingangstür zum Hof.
In der Nacht zum Samstag setzte orkanartiger Regen ein. Die Erde konnte den Regen nicht mehr schnell genug aufnehmen und das Regenwasser floss eine kleine Treppe hinab in diesen besagten Kellerraum und stieg rapide an. Die beiden Kranzkuchen wurden erfasst und schwammen wie zwei „Spielzeugenten“ auf dem Kellersee. Das Lustige daran war, dass sie durch das Wasser noch mehr an Größe gewonnen hatten. Großmutter nahm es gelassen hin, als dies samstags dann entdeckt wurde. Gott sei Dank hatte der Bäcker noch weitere Hefekuchen im Laden, die man dann mit großem Genuss verzehrte und dabei mit lachenden Gesichtern die beiden „Schwimmer“ vor Augen hatte.
Die Bäckerei war Anfang bis Ende der 1950er Jahre an Emil Lang vermietet. Das Ehepaar war kinderlos und wenn in der Nachbarschaft ein Baby oder Kleinkind war, hat Frau Lang immer gefragt, ob sie von ihrem gekochten Gemüse etwas für das Kind abgeben darf. Familie Lang hat dann später in Eußerthal eine eigene Bäckerei eröffnet. Sie haben sich wohlgefühlt in der Wattelsgasse und ich sehe heute noch den Umzug vor mir. Mit einem bepackten Lastwagen ging es zur Straße raus - Frau Resi hatte Tränen in den Augen.
Gegenüber von uns lebte Franz Schwab, der letzte Berufsfischer aus Leimersheim. Franz war meistens gut gelaunt und hatte immer einen Spruch auf den Lippen. Wenn er als kleiner Junge bei den Nachbarn war und nicht nach Hause wollte, sagte er: „Dess Franzel bleibd doo“.
Nach dem Tod von Elisabeth 1992, der Wirtin, wurde die Wirtschaft "Zum Adler" geschlossen. EIn Teil lebendiger Geschichte hat damit ein Ende.
Wenn der „billige Max" gefahren kam mit einem Lastwagen voller Geschirr und Gebrauchsartikeln (vom Nachtopf bis zur Salatschüssel), liefen die Frauen mit dem Geldbeutel in der Hand auf die Straße und waren glücklich, dass ihr Kauf nicht allzu teuer war (deshalb der Name "de billische Max").
Die Bewohner der gesamten Wattelsgasse halfen sich gegenseitig bei der jährlichen Kartoffelernte, beim Zwiebelstecken usw. Danach gab es ein großes Vesper – sogar mit süßem Sprudel. So gab es auch bei den Kindern und Jugendlichen vom Anfang bis zum Ende der Straße viele Freundschaften und ein lustiges Beisammensein.
Gott sei Dank, ist trotzdem ein Teil vom Straßenleben noch viele Jahre geblieben, die gute Nachbarschaft und das „ganz“ alltägliche Leben in der Wattelsgasse.
Text und Recherche: Manuela Wettstein
Fotografien: Familienalbum Manuela Wettstein, Fotosammlung Brigitte Kamm-Tibad
Koordination: Regina Flory
Bildbearbeitung: Regina Flory
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