Mühlgasse 35
Zitronesprudel unn Fahrschdunn
Im Haus der Mühlgasse 35 in Leimersheim gab es zwei Gewerbe, die für ein kleines Dorf in den Fünfziger und Sechziger Jahren eher ungewöhnlich waren: eine Sprudelfabrik und eine Fahrschule.
1950 - die ersten, harten Nachkriegsjahre sind vorbei. Langsam kehrt in Deutschland wieder die Freude an gutem Essen, an der „"feinen" Zubereitung zurück, ebenso wie der Genuss von "luxuriösen" Lebensmitteln. Das beginnende Wirtschaftswunder beflügelte so manchen Junggeist. Durch diese Entwicklung ermutigt, kam der 21-jährige Eduard Kuhn nach seiner Lehre als Kaufmannsgehilfe auf die Idee, in Leimersheim Sprudelwasser herzustellen. Das Prozedere lernte er in der Zeit seiner englischen Gefangenschaft kennen. Das Getränk aus Trinkwasser und Kohlensäure sollte das gute Glas "Hahnewasser" ersetzen.
Mit Begeisterung und Unternehmersinn errichtete er eine Halle auf dem Grundstück seines Elternhauses. Eine spezielle Wasserleitung konnte die große Volumenmenge fördern. Eine Mischanlage, Spülwannen, große Mengen an Kisten und Flaschen gehörten zur ersten Ausstattung. Auch ein Bordmotor aus dem kriegsbeschädigten Aalschokker, der "Rheinperle" von Karl Michael Kuhn fand Verwendung in der Produktion. Er war das Herzstück der Anlage und gab dem späteren Erfolgsschlager der Sprudelfabrik den Namen.
Trotz Unverständnis für das Vorhaben seines Sohnes, eine Fabrik zu betreiben, half der Vater Peter tatkräftig mit, ebenso ab 1954 Eddes Ehefrau Veronika, geb. Ochsenreither, und deren Schwester Magdalena Gericke. Als die Nachfrage wuchs, wurden ihre Tanten Emma Stadter und Hermine Ochsenreither und die Verwandte Elisabeth Wünschel, geb. Kuhn, eingebunden. Die Flaschen mussten per Hand in einer großen Wanne gespült werden, die Etiketten aufgeklebt und im Rücklauf ebenso manuell entfernt werden. Von Veronika Kuhn mittags bekocht, gingen die Frauen gestärkt wieder an die Arbeit - ein wahrer Familienbetrieb: "Herstellung und Vertrieb alkoholfreier Getränke".
In seinem "Fabriggl" begann Edde Kuhn mit der Produktion des "Sauerwassers" in der Glasflasche mit dem Bügelverschluss aus Porzellan. Die "Rheinperle" folgte, eine Limonade mit spritzig süßsauren Geschmack - schnell bekannt und beliebt als das unverkennbare "Zitronesprudel vum Edde" mit dem grüngelben Etikett. Sein nächstes Projekt: "Nafruli", die süße Naturfruchtlimonade mit Orangengeschmack, kam hinzu. Eine Zumischung von Fruchtsaftkonzentrat ergab den Bluna-ähnlichen Geschmack. Noch bevor 1959 in Deutschland „Fanta klar“ die Märkte eroberte, brachte er die nächste Limonadenmischung "Nawinta" auf den Leimersheimer Markt. Für die Kinder der Fünfziger und Sechziger bedeutete es etwas ganz Besonderes, an Sonntagen oder zur Feier des Tages ein Gläschen von der süß prickelnden Limonade genießen zu dürfen.
In den ersten Jahren belieferte der Jungunternehmer seine Kundschaft persönlich, anfangs fuhr er mit einem Handwagen voller Kisten mit gefüllten Flaschen durch die Straßen von Leimersheim, dann hieß es: "de Wasser-Edde kummt". Bald erleichterte ein dunkelroter Dreiradlaster die zunehmenden Hauslieferungen.
Aufgrund der hohen Resonanz kamen eine maschinelle Abfüllanlage, ein Spülautomat und eine Etikettiermaschine zum Einsatz. Zum Weiterverkauf wurden ab 1960 ins Repertoire aufgenommen: Flaschenbier, Wein, Coca-Cola und Apfelsaft. Hubert Pfadt, der angestellte Fahrer, übernahm die Auslieferungen mit der neuen, blauen Version des Pritschenwagens "Goliath". Jedes Kind freute sich, wenn der vollbeladene, laut scheppernde Kleinlaster mit dem pfeifenden Fahrer, "de Wasser-Hibberle", die Getränke ins Haus brachte und dabei seine Witzchen machte. An heißen Tagen fuhr die jüngere Kundschaft samstags selbst mit dem kleinen Handwägelchen zum "Wasser-Edde", wenn das Sprudel ausging.
Währenddessen nahm Edde eine völlig andere Aufgabe zeitlich immer mehr in Anspruch. Trotz aller Liebe zu seinem "Fabriggl" wurde die Sprudelfabrik 1975 nach 25 Jahren geschlossen. Einen Teil der Halle nutzten bis dahin, wie bereits in den vielen vergangenen Wintern seit den Fünfzigern, die Weidenausleser aus Neupotz. Unter Mithilfe der Söhne Kuhn wurden die Weiden durch Wässern, Schälen und Bündeln zum Weiterverkauf an Korbflechter vorbereitet. 1981 erfolgte der Umbau der Fabrikhalle in ein Wohnhaus für die Familie Kuhn.
Zwischenzeitlich suchte Edde Kuhn eine weitere Herausforderung und absolvierte 1961 die Fahrlehrerausbildung. Die "Fahrschul" nebst drei Garagen wurde in kurzer Zeit zur Straße hin errichtet. Die Theoriestunden mit Modellautos, Verkehrsschildern und Tafeln konnten beginnen. Ein VW Käfer mit Schaltgetriebe und ein Automatik-Auto standen vor der Tür. Ein Motorrad und der Mercedes Fahrschulbus erweiterten das Angebot für die verschiedenen Fahrerlaubnis-Klassen. Der großen Nachfrage wegen eröffnete er bald auch in Karlsruhe, Wörth, Hagenbach und Neuburg seine Filialen mit angestellten Fahrlehrern. Den Theorieunterricht in den Außenstellen übernahm Edde jedoch persönlich. Das hieß, fünf Abende in der Woche jeweils an einem anderen Ort die Fahranfänger auf die schriftliche Prüfung vorzubereiten. Insgesamt erhielten etwa 25.000 Schüler ihren Führerschein durch die Fahrschule Kuhn.
Viele Leimersheimer erinnern sich heute noch an ihre "Fahrschdun mit’m Edde". Manch einer mit "was hemmer do gelacht", viele mit "oh je, oh je" - Geduld war nicht die Stärke des Lehrers. Doch jeder konnte sagen: "Awwer, ich häb‘s g’schafft!" Und alle Fahrstunden sind bis heute verbunden mit gern erzählten, erlebnisreichen Anekdoten.
1991 saß sein letzter Fahrschüler neben ihm. 30 Jahre "Fahrschul‘ beim Edde" - eine Ära ging zu Ende.
Die Flugschüler begleitete er weiterhin mit seiner viersitzigen, einmotorigen Cessna, stationiert am Flugplatz in Schweighofen. Der Theorieunterricht der Flugschule fand noch einige Jahre im Fahrschulgebäude in Leimersheim statt, danach in privaten Räumen. Bis 2019 waren die Unterrichtsräume in der Mühlgasse an einen Fahrlehrer aus Hördt vermietet. 2020 begann auch hier der Umbau zum Wohnhaus.
Text und Recherche: Regina Flory (2021)
Quelle: Familie Edde Kuhn / Berthold Kuhn
Fotografien: Fotoalbum Edde Kuhn
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